Unter der Gürtellinie

Intimes beim Streckenfliegen

Probleme und Produkte über die in der Gleitschirmscene nicht gesprochen, geschweige denn berichtet wird.

Unser Gastschreiber, Dirk Stolp, möchte diesen Missstand gerne beheben und erzählt über seine Erfahrungen mit dem delikaten Thema. Jede Ähnlichkeit von Personen, ob beim Namen oder in Bezug zur Realität müssen unbedingt der Phantasie zugeschrieben werden.

Am Anfang war alles so einfach, Abgleiter, Start-Zielflüge, nach spätestens 20 Minuten erreichte ich den Landeplatz. Dann  mein erster Thermikflug, nach 60 Minuten kam ich zu Boden, durchgefroren, überglücklich und mit leicht gekrümmtem Gang erklärte ich dem Fluglehrer, dass ich kalte Finger habe; erzählen ja irgendwie alle am Landeplatz. Kaum des Laufens fähig, husche ich dem imaginären Baum entgegen und entleere meine Blase, im letzten Moment.

Und dann wurde es mir schlagartig klar, meine Fliegerkollegen wärmen sich ihre kalten Finger nicht in der Genitalregion, sie haben ein ganz anderes Problem. Nicht das Adrenalin des irrsinnigen Flugerlebens steht ihnen bis zur Unterlippe, „Nein“, der Harndrang zwingt sie zu versauten Landungen, und am Ende sind es immer wieder die kalten Finger, obwohl sie einfach nur mal ganz, gaaaanz dringend urinieren müssen.

Mit Jahrgang 68 geht man seine Recherchen vielleicht etwas anders an. Der Scham, dass mir meine Frau bei der PC-Suche nach einschlägigen Stichwörtern wie „Harndrang, Windel, Flüssigkeits- Ein- und Ausfuhr“ über meine Schulter schaut, treibt mir nicht die Röte ins Gesicht, aber sie wissen ja wie schnell man „Hausfrauensex“ angeboten bekommt, obwohl man nur Rotweinflecken entfernen wollte. Mein Ziel, das Thema in aller Ruhe, fundiert zu erarbeiten, löste eine wahre Flut von Päckchen aus, alle gängigen Ratgeber der Gleitschirmliteratur konnten unverfänglich bestellt werden. Die 9. Überarbeitete Auflage des Lehrbuchklassikers „Gleitschirmfliegen“ von Urs Lötscher und Thomas Zeller; die 3. Auflage des Lehrbuch zum B-Schein „Streckenfliegen“, von Roger P. Frey; die Bibel der Gleitschirmflieger „Das Streckenflugbuch“ von Burkhard Martens, in seiner zweiten Auflage – mit dem vielversprechenden Untertitel „Mit Erfahrungsberichten und Tipps von 20 der weltbesten Streckenflieger“, obendrein noch 1000 Bilder!; alle umgehen das Thema, mein Thema, sie streifen es nicht einmal, eine tiefe Enttäuschung macht sich breit.

Mehr Offenheit verspreche ich mir vom viel gelobte Ratgeber „50 Wege zum besseren Piloten“, Bruce Goldsmith hat so schöne bunte Schirme im Angebot und Chrigel Maurer sagt schon auf dem Cover, das dieses Buch unentbehrlich ist; da wird sicher auch mal ein Thema unter der Gürtellinie ausführlich thematisiert. Vergessen Sie es liebe Leserin und Leser, guter Rat ist teuer an Erfahrung.

Nicht ganz, denn jetzt hatte ich endlich ein Motiv, den Theorieunterricht meiner Flugschule zu besuchen. Die Themen, welchen fürs Brevet notwendig sind, versprechen zwar nichts Eindeutiges; und die Erwartung war auch nicht besonders hoch, als wir die Themen Materialkunde, Gesetzgebung, und Wetterkunde im Frontalunterricht erleben durften. Da half es alle mal, vorher in der Luft gewesen zu sein, und dem Landebier ausgiebig zugesprochen zu haben; aber sie kennen das sicher alle. Der Theorieabend zur „Flugpraxis“ naht, und ich bin schon vorab so aufgeregt, dass ich unruhig auf dem Stuhl herumrutsche, nicht wegen der vollen Blase, sondern in Erwartung, dass der sympathische Fluglehrer genau dieses, mein Problem zum Thema macht. Nach 1.5 Stunden „Nicken“, „Ohren anlegen“, „Startentscheidung“ gebe ich die Hoffnung auf; ich beschliesse in diesem Moment, das Thema persönlich zu klären.

Eine Woche später auf dem Landeplatz, nur ein kurzer Start-Ziel Flug, so kann ich das Thema „ohne Druck“ klären. Beat lächelt mich an, fragt wie es der Frau und den Kindern geht …, da ist mein Pinkelproblem sowas von daneben. Aller Mut und dann krächze ich hervor, ob er auch beim Fliegen Harndrang verspüre und deshalb kurz vor der spontanen Blasenentleerung ins Gurtzeug, zum Landen gezwungen wird? Mittlerweile haben sich auch alle anderen Flugschüler eingefunden, in Erwartung, dass der Fluglehrer genau jetzt die entscheidenden Informationen preisgibt, welcher Schirm einen am längsten in der Luft hält, dies bemerke ich jedoch nur noch am Rande. Quasi versinke ich im Boden, „mein Fluglehrer“ lächelt mich immer noch an, ein Raunen geht durch die Menge, und mit einer lässigen Handbewegung wischt er meine Frage beiseite, „Er könne stundenlang aushalten“. Was muss ich doch für ein Looser sein, aber dann der Lichtblick am Ende des Tunnels; darüber kannst Du gerne mal mit Joseph sprechen, der windelt sich, wenn er auf Strecke geht … mein Pinkelproblem wird zum heutigen, kollektiven Tagesthema unter den Flugschülern.

Erst vier Wochen später ergibt sich die Chance mit Joseph unter vier Augen zu sprechen, wir teilen uns quasi einen Baum am Startplatz und wenn wir schon mal dabei sind, frage ich ungezwungen über die Schulter, ob er keine Windel anhabe. Wir schauen beide auf das erledigte Geschäft und das vor uns versickernde Problem, peinliches Schweigen, ein verlegenes Räuspern, und dann ein verständnisvolles Grinsen. Ja, ich windle mich, wenn ich auf Strecke gehe; Erleichterung macht sich in mir breit, das Angebot einer diskreten Windelbezugsadresse im Internet nehme ich quasi als Ritterschlag entgegen. Wir starten zum gemeinsamen Abendflug, das anschliessende Landebier lässt mich wohlig von ausgedehnten Flugstunden träumen. Jäh werde ich in die Realität zurückgeholt, Joseph gibt mir den Link auf einem eher indiskreten Zettel, und kommentiert diesen mit dem Hinweis, dass ich die Hüftweite für die richtige Grösse messen müsse. Gerne könne ich aber auch eine Windel von Ihm zur Probe bekommen, wir haben ja eine ähnliche Statur … Ungezählte Augenpaare ruhen auf mir, das Pinkelthema hat mich wieder eingeholt.

Zum Glück fliegt meine Frau auch und bei der Heimfahrt bietet sie mir an, mein Problem diskret zu lösen. Mit ihrer Arbeit im Sozialbereich sitzt sie quasi an der Quelle alle Windelgrössen …, wenn ich gewusst hätte, dass damit die Probleme erst beginnen.

Eine unserer ersten Gleitschirmreisen führt uns in die Türkei, erstmals ist das Volumen des Packsacks restlos ausgenutzt, die tägliche Windelration muss verpackt sein. Die Vorstellung, an der Sicherheitskontrolle die Windeln im Handgepäck mit mir zu führen, ausgeschlossen. Das erstaunte Gesicht der netten Dame hinterm Bildschirm des X-ray Tunnels wollte ich mir erst gar nicht vorstellen, die Gepäckkontrolle vor den anderen Reisenden erst recht nicht.

Voller Erwartung fahren wir zum Startplatz oberhalb der Kalksinterterassen von Pamukkale, meine Geheimwaffe gegen den spontanen Harndrang versteckt im Wendegurtzeug. Bereits Tage vorher habe ich das Anlegen der Riesenwindeln geübt und tatsächlich spricht der Fluglehrer von guten thermischen Bedingungen und den Möglichkeiten langer Streckenflüge. Zur Tat, das halbe Briefing verpasse ich im mässig sauberen Stehklo, voller Angst meine in den Knöcheln hängende Softshellhose einzusauen, endlich, die Windel ist montiert. Ich komme mir vor wie eine Ente, die Hose ist ausgefüllt wie nie, bei Kleidergrösse S-M, sollte das Volumen der Windel beachtet werden. Ob sich wirklich die Augen aller Teilnehmer auf mich richten löst sich erst beim Landebier am Abend auf, mit Windel hätte ich einen ganz schön fetten Hintern bemerkt Eric, die Meute grölt. Tatsächlich bin ich heute 90 Minuten geflogen, am Ende habe ich gegen einen Olivenbaum gepinkelt, die Windel sauber gefaltet in den Packsack zurückgelegt, die Bedingungen wären gut gewesen – wenn uns da nicht die Inversion einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte, aber den Teil vom Briefing hatte ich ja voller Vorfreude im Stehklo verbracht.

Die Türkeireise brachte mir nicht nur einen riesen Vorrat unbenutzter, verknautschter Windeln; Eric erklärte mir erstmals, warum Gleitschirmpiloten gelegentlich Schläuche aus dem Hosenbein hängen haben, neue Erkenntnisse bahnten sich an. Erstmals wurde das Urinalkondom erwähnt, aus Rücksicht auf die landestypischen Sitten durfte ich dieses hinter vorgehaltener Hand bestaunen …; also doch keine falsch verlegten Trinkschläuche. Das Angebot, mir das corpus delikti in Naturale, also montiert anzuschauen, wurde zum Glück ausgelassen – vieles wäre mir erspart geblieben, wenn ich es einmal gesehen hätte.

Kenia, das Land der Streckenflugträume. Ich fliege jetzt seit eineinhalb Jahren, hoch motiviert und immer noch ohne Brevet, ich habe andere Probleme, welche vorrangig gelöst werden müssen. Die Reise geht über zwei Wochen, Windelberge müssen verladen werden …

Meine Internetrecherche zum Urinalkondom war erfolgreich, aber der Blasendruck noch nicht gross genug, um das Thema umfassend zu studieren. Längst hatte ich mich an den Entenarsch gewöhnt, und sonst waren es halt die kalten Finger.

Mehrere neue Erkenntnisse standen mir in Kenia bevor, hätte ich das gewusst, Harndrang ist so ein vielfältiges Thema und beinhaltet viele ausgesprochen körperliche Erfahrungen. Eigentlich war schon der zweite Tag, bei besten Flugbedingungen, sehr erfahrungsreich. Ein junger Mann landet nach drei Stunden Streckenflug top, fluchend steigt er aus seinem Liegegurtzeug, ein Schlauch schaut aus dem Hosenbein. Aber alle Blicke richten sich auf den nassen Fleck, welcher sich über den Oberkörper bis zu den Knien erstreckt, „Urinalkondom geplatzt“ – und schon verschwindet er im Hotelzimmer, um sich trocken zu legen. Siegessicher kuschle ich mich in meine Windel und beschliesse die guten Bedingungen zu nutzen.

Der Vorteil einer Windel ist, man sitzt/liegt warm, weich und bequem in seinem Gurtzeug, zumindest in der Lendengegend. Nach einer Stunde Flug, der erste zaghafte Druck auf der Blase, ein entspanntes Lächeln macht sich breit, ich weiss ja, dass ich gerüstet bin. Nach eineinhalb Stunden wird der Druck unausstehlich, aber ich habe den Mut längst verloren, hat mir doch meine Mutter verboten in die Hose zu machen. Die mentale Schwelle ist überwunden, als ich auf mein Vario schaue und sehe, dass meine ersten 50km geflogen sind, der erste Liter strömt in die Windel, entspannt greife ich zum Trinkschlauch, bloss nicht dehydrieren. Langsam kühlt die Fangopackung an meinem Hintern aus, fatal, der Harndrang setzt erneut ein. Vielleicht war es nicht wieder ein Liter, aber das erste Mal befürchte ich, dass ich auslaufen könnte; als hätte ich es schon zu diesem Zeitpunkt geahnt, denn die Geschichte beginnt erst jetzt.

Ich lande nach drei Stunden auf einer Art Fussballplatz, neben der Dorfschule, auf der untersten Ebene des Riff Valley. Nein, die Wärme hat mich nicht umgebracht, Helm, Handschuhe und Jacke waren schnell abgelegt. Mittlerweile umringen mich ca. 50 kenianische Kinder, lachen, reden auf mich ein; ein junger Bursche mit seinem Motorrad steht am Rand des Geschehens, er wird für meinen Rücktransport zum Startplatz besorgt sein. Mir wird bewusst, dass ich gut gelandet bin – alles perfekt gelöst, Entspannung setzt ein, und wieder lasse ich es laufen, Sie wissen schon. Nein, kein Angstpieseln – dieses wohlige Gefühl, der Smile im Gesicht nach einem phantastischen Flug und der Körper macht auf sich aufmerksam. Kaum vorstellbar, wenn man von 50 Kindern umringt wird, den Baum oder Busch zu suchen und der Bursche auf dem Motorrad dreht am Gas.

Ich packe meine Sachen zusammen, bald habe ich mich verabschiedet und mein letzter Gedanke war, wo werde ich die Windel los, das Prinzip Hoffnung hätte ich schon an dieser Stelle aufgeben müssen und das volle Problem besser irgendwo abgelegt. Brumm, der Motor heult wieder auf, ich steige auf das Motorrad und Hoffe …

Schon nach wenigen Minuten macht sich mein Entenarsch bemerkbar, Schotterpisten, Schlaglöcher, und die Windel wird systematisch ausgedrückt, wie eine reife Zitrone. Die Beine werden nass, sogar der Bauch fühlt sich schon feucht an …, nach 60 Minuten sind wir am Hotel und Startplatz. „Windel zu voll“ und ich verschwinde im Hotelzimmer, um mich trocken zu legen. Nein, die Gesichter meiner Fliegerkollegen werde ich nie vergessen.

Viele unbenutzte Windeln traten die Heimreise von Kenia an und in den kommenden Wochen zwangen mich viele Male „kalte Finger“ früher zu Boden, als mir lieb war, das Urinalkondom wurde zur letzten Hoffnung.

Fortsetzung … folgt in den kommenden Wochen.

  • Warum man im Liegegurtzeug keine Windel und kein Urinalkondom braucht, eine reine Frage der Technik und des Materials, der erste Selbstversuch
  • Freundliche, telefonische Beratung – mal ganz offen gesprochen
  • Die Schablone
  • Warum man niemals gleich eine ganze Kiste Urinalkondome kauft
  • „Extra starker Kleber“
  • Auf dem Schlauch gestanden, mal wörtlich genommen
  • Hygienetipps, Links und Kontakte